Die verschwenderische Verwendung des Wortes „Reform“ bringt einen ins Grübeln: Geht es um korrekte Bezeichnung oder um Verschleierung? Haben wir es hier, wieder mal, mit einem Ausdruck des Neusprech zu tun?
(Information für Einsteiger nach Wiki: „Neusprech“ bezeichnet in Orwells Roman „1984“ die vom herrschenden Regime vorgeschriebene, künstlich veränderte Sprache. Das Ziel dieser Sprachpolitik ist es, die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter zu verringern, um die Kommunikation des Volkes in enge, kontrollierte Bahnen zu lenken. Damit sollen sogenannte Gedankenverbrechen unmöglich werden. Durch die neue Sprache bzw. Sprachregelung soll die Bevölkerung so manipuliert werden, dass sie nicht einmal an Aufstand denken kann, weil ihr die Wörter dazu fehlen.“)
Wir haben uns daran gewöhnt das Kriegsministerium Ministerium für Verteidigung zu nennen, wir übernehmen Verantwortung, wenn wir irgendwo Krieg machen wollen. Wir reden von Kollateralschaden, wenn Zivilisten getötet werden, wir schieben Menschenrechte vor, wenn uns geostrategische Ziele am Herzen liegen. Wir hören von Pressefreiheit reden, wo es um das Recht des Verlegers geht, seine Ansicht der Sache zu formulieren. Aber Reform?
Im sozial-politischen Bereich hat „Reform“ immer eine planvolle und gewaltlose Umgestaltung bestehender Verhältnisse bedeutet. Reformen sollten der Mehrheit des Volkes dienen und, anders als Revolutionen, gewaltlos vor sich gehen. Beispiele: im alten Rom die Reformen der Gracchen um 133 – 121 vor Chr., in Preußen die Preußischen Reformen zwischen 1807 und 1811 oder unter Bismarck die Einführung der Sozialgesetzgebung ab 1883.
Robert Blum, der in der Deutschen Revolution von 1848 zu den moderaten Linken gehört hat, also zu den Reformern, schreibt in seinem „Volksthümlichen Handbuch der Staatswissenschaften und Politik“ (der 1. Band 1848 erschienen, der 2. Band nach seiner Hinrichtung – wegen Teilnahme an der Wiener Revolution – erst 1852) beim Stichwort „Reform“ Folgendes:
„Die Menschheit schreitet, hier mehr, dort weniger, in ihrer Entwicklung und Ausbildung fort; dadurch ist auch bezeugt, dass ihre Gesellschaftsverhältnisse mit dieser Entwicklung und Fortbildung gleichen Schritt halten… In dem Maaße, wie ein Volk in der Cultur und Civilisation vorrückt, muss auch der Staat mit allen seinen Anstalten und Einwirkungen auf das Volksleben fortrücken und seine Verfassung, Regierung und Verwaltung fortbilden, wenn sie nicht mit dem Leben des Volkes in Widerspruch gerathen und somit störend werden sollen.“
Reform ist für Blum mit Fortschritt, Aufklärung und Verbesserung der Lebensverhältnisse der Mehrheit gegen eine herrschende Minderheit verbunden. Weiter schreibt er:
„Allerdings kommt es bei der Einführung von Reformen darauf an, ob sie dem Volksgeiste angemessen sind. Lange Unterdrückung und Willkürherrschaft verschlechtern den Charakter der Menschen, stumpfen sie für alles Höhere ab. Hat ein Volk lange unter dem Drucke der Aristokratie, des Adels und der Geistlichkeit gelebt, so ist die Einführung auch der wohlthätigsten Reformen nicht leicht. Wenn das Volk durch lange Gewohnheit zu einer gewissen Knechtschaft des Geistes gelangt ist, dann überlässt es sich einem krankhaften Schlafe.“
Der „krankhafte Schlaf“ wird bei Kant treffender als „selbstverschuldete Unmündigkeit“ bezeichnet. (Wie funktionierte die früher ohne Bild-Zeitung?)
Die Vorstellung, dass Reform Fortschritt und Revolution eine beschleunigte Reform ist, war in der Sozialdemokratie (bis zum Weltkrieg) eine gängige Denkweise: es gab in der SPD Reformer und Revolutionäre, wobei die letzteren in ihrer Zahl immer mehr schmolzen und schließlich als Kommunisten eine eigene Partei bildeten.
Das Abrücken der Sozialdemokratie von ursprünglich fortschrittlichen Maximen verlief kontinuierlich bis heute.
Im Schröder-Blair-Papier von 1999 wird die These formuliert, der Konkurrenzdruck durch Globalisierung lasse der Politik keinen Spielraum mehr und Neoliberalismus sei Axiom, Schicksal und Notwendigkeit. Und was uns dann als Reformvorhaben der „Agenda 2010“ geboten wurde, war nur dem Wort nach Reform. Es ging nicht um Fortschritt und Verbesserung im Sinne der Aufklärung, wie Blum es verstand: es ging um Wachstum, Markt und Abbau des Sozialstaates, alles zugunsten des Kapitals. Die Leitidee: Neoliberalismus.
(Wikipedia bringt es auf den Punkt: „Die Agenda 2010 setzt insbesondere arbeitgeberfreundliche angebotspolitische Ideen um: (und führt den Satz als ideologischen Nebel weiter:) Da der Staat in einer Marktwirtschaft gewerbliche Arbeitsplätze nicht per Anweisung schaffen könne und auch nicht durch öffentliche Investitionen bestehende Arbeitsplätze sichern oder neue schaffen solle, werden indirekte angebotsökonomische Einzelmaßnahmen in der Erwartung ergriffen, dass damit Anreize zu verstärkten privaten Investitionen geschaffen werden, woraus neue Arbeitsplätze entstünden.“) Die „Erwartung“ wird in einen Passiv-Satz eingebettet, so dass das Handlungssubjekt (wer erwartet etwas?) im Nebel verschwindet und der Satz in Belanglosigkeit und Lüge endet.
Der Kündigungsschutz wird gelockert, die Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber gesenkt, die Zumutbarkeit für Arbeitssuchende verschärft. Alles „Strukturreformen“, die die Arbeitslosigkeit senken und Arbeitsplätze schaffen sollen. Und was sind das für Arbeitsplätze? Minijobs, Leiharbeit und prekäre Arbeitsverhältnisse. Die Folgen sind zunehmende Verarmung (Kinderarmut, Altersarmut) auf der einen Seite und steigender Reichtum bei einer Minderheit auf der anderen Seite. (Das Deutschland sich Exportweltmeister nennen darf, ist Folge eines erzwungenen Lohnverzichts.) Die um ihren Abstieg fürchtende Mittelklasse sucht sich (wie einst) Sündenböcke (Juden, Moslems, Ausländer), vor allem in der Pegida-Wohlfühl-Gemeinschaft, Feindbilder wie Russland und Griechenland haben Hochkonjunktur. (Die Russen machen wir mit Sanktionen platt, und wie die Griechen? Mit Reformen natürlich.)
Betrachten wir ein anderes Stichwort bei Blum, das Stichwort „Reaction“:
„Die Bewegung nach Vorwärts geht vom Volke aus; die Bewegung nach Rückwärts, die Reaction, von den Regierungen und ihren Anhängern. Erfolgt dieses Zurückschieben mit einer gewissen Folgerichtigkeit und Stätigkeit, so hat sich ein Reactionssystem gebildet… Es bieten daher die Männer der Reaction die ganze Kraft auf, die dem geschichtlich bestehenden, nach der Jahrhunderte langen Dauer des Besitzstandes, beiwohnt, um das ins öffentliche Leben eingetretene Neue und Zeitgemäße wieder aus demselben zu verdrängen…“
Damit wären die Würgegriff-Maßnahmen der Agenda 2010 wohl eine reaktionäre Anti-Reform? Ja.
Wie die Maßnahmen „würgen“, wenn sie „greifen“, sieht man an Griechenland: 40% der Einwohner leben inzwischen ohne Krankenversicherung. Und die Ukraine wird (dem Assozierungsvertrag mit der EU entsprechend) zunehmend neoliberal zugerichtet: die Löhne und Renten sind eingefroren und die Gaspreise vervierfacht. (Die Majdan-Bewegung, die sich Anfangs als Protest gegen Oligarchen und Korruption richtete, blickt heute auf Oligarchen, Korruption und verstärkte Verarmung. ZEIT ONLINE vom 30.3.2015 führt ein Interview mit dem Journalisten und Parlamentsabgeordneten Leschtschenko:
ZEIT ONLINE: Sie wurden persönlich von Kolomojskyj angegriffen, weil sie für ein Gesetz geworben haben, das den Einfluss seiner Privat Group über das Rohstoffgeschäft sehr begrenzt.
Leschtschenko: Ja, er rief mich oft an, der Oligarch bedrohte mich und schickte mir brutale Kurznachrichten aufs Handy. Auch sein Stellvertreter drohte mir. Eigentlich ist das unvorstellbar, aber es ist geschehen. )
((Abschluss-Prüfungs-Frage im Neolib-Kurs der Volkshochschule: Warum gibt es in Bangladesch keine „Reformen“? Antwort: Hier braucht es keine, hier sind schon alle realisiert …))