Der Umgang der Medien und der Bevölkerung mit den Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit den NSU-Morden war und ist erstaunlich nachsichtig. Polizei, Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst hätten Fehler begangen (es wurde nur im Milieu der Opfer ermittelt, Hinweise und Aussagen wurden nicht beachtet), Zufälle hätten sich störend eingeschlichen (Akten sind im „falschen“ Augenblick geschreddert worden): zwei dutzend Folgen von „Pleiten, Pech und Pannen“ seien passiert, aber nichts eben mehr als passiert. Shit happens, heißt es im amerikanischen Spielfilm. Konsequenzen: keine.
Anders sieht das Olaf Radtke. In einem Artikel in „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (Nr. 7, Juli 2015) spricht er vom „Rassismus im System“ (Titel). Darin macht er darauf aufmerksam, dass Politiker, Polizisten und Journalisten dem Effekt eines institutionellen Rassismus unterlägen, der nicht als individuelles Versagen zu erklären sei, sondern als „stumme Konformität mit dem Selbstverständlichen“. Wenn in einer Gruppe die Mehrheit abfällig über Menschen anderer Hautfarbe spricht, passt sich auch der anders denkende an, übernimmt Feindbilder und handelt dementsprechend.
Das gilt auch für Behörden. Die Übergriffe von weißen Polizisten in den USA gegen Schwarze werden in Deutschland selbstverständlich als Rassismus gekennzeichnet. Anders die Übergriffe von deutschen Sicherheitsorgangen gegen Asylbewerber oder ihre fröhliche Nachlässigkeit und Nachsicht bei den NSU-Morden: sie werden als individuelle Fehlleistungen betrachtet.
Radtke beruft sich bei seinen Ausführungen auf die Theorie der epistemic community (von Peter Haas 1992 entwickelt). „Es beschreibt ein Denkkollektiv, das sich in diesem Fall aus Politikern, Experten, Funktionären und Journalisten besteht und sich wie ein Netzwerk über die Funktionssysteme erstreckt.“ Ein Bundespolizist in Hannover erniedrigt und demütigt am 25.9.2014 einen Marokkaner, fotografiert das Ganze mit seinem Handy (Zeugen in Stiefeln sind zu sehen), er verschickt das Foto an seine Community und vergrößert damit den Zeugenkreis, er ist sich ihrer Zustimmung sicher, denn ein „lustiger“ Kommentar garniert die Bilder (Zitat: „…er hat gequiekt wie ein Schwein…“). Abu Graib in Deutschland. Und das Netzwerk funktioniert. Ein Indiz: Während die Bundesregierung (für die Zeit 1990 – 2012) 63 Todesopfer rechter Gewalt offiziell anerkennt, zählt die Amadeu Antonio Stiftung mindestens 184 Todesopfer.
Was meiner Meinung in Radtkes Beschreibung fehlt, ist der Rezipient, also der Leser oder Zuschauer, der als Konsument der Medien ebenfalls zum Netzwerk des Denkkollektivs (besser: Vorurteilskollektivs) gehört. Es gibt eine erschreckende Gleichgültigkeit und Wegschaumentalität des braven Bürgers der gesellschaftlichen Mitte, die bis zur Billigung reicht. In Rostock und Hoyerswerda klatschte er noch angesichts von Ausschreitungen, er missbilligt manchmal „Übertreibungen“, aber er protestiert nicht. (Und wenn, dann im Sinne seiner Vorurteile bei Pegida.) Und wenn er sehrsehr kritisch ist, dann ist er allenfalls der Meinung, dass der Verfassungsschutz, der den NSU finanziert hat, reformiert werden sollte.