In Polen mobilisiert die Katholische Kirche gegen die LGBT-Bewegung
(Der Beitrag ist in konkret Nr. 9, September 2019 erschienen)
Am 20. Juli 2019 fand im polnischen Białystok ein von Aktivisten und Aktivistinnen der LGBT-Bewegung organisierter „Marsch für Gleichstellung“ statt, der ein fröhliches Fest werden sollte, aber in Beleidigungen, Spuckattacken, Eier-, Fäkalien- und Steinwürfen, Pfeffersprayangriffen und Fußtritten durch radikale Katholiken und Nationalisten endete. 700 Polizisten bemühten sich vergeblich um den Schutz der rund 800 Teilnehmer/innen des Marsches, denen etwa fünfmal so viele Gegner/innen der Veranstaltung gegenüberstanden; unter ihnen befanden sich besonders aggressive Teilnehmer eines sogenannten Familienfests. Ordnungskräfte und Medien machten als Täter vor allem Fußballfans und sogenannte besorgte Bürger aus.
Besorgt worum? Das haben die Katholische Kirche Polens (KKP), Vertreter der regierenden Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit) und PiS-freundliche Medien bereits im Vorfeld deutlich gemacht. Tadeusz Wajda, Erzbischof der Diözese Białystok, gab vor der Veranstaltung einen Hirtenbrief unter dem Titel „Unsere Einstellung zum LGBT-Marsch“ heraus. In einer eleganten rhetorischen Klimax betont der Text zunächst die Legalität der Veranstaltung (captatio benevolentiae) und geht dann über zum Lieblingsthema der KKP, der Bedrohung der christlichen Werte und der Familie durch Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle. Der Zweck der Verlautbarung kommt erst am Ende des Schreibens zum Ausdruck in einer Art captatio malevolentiae: „Dank all denen, die zur Verteidigung der christlichen Werte und zum Schutz der Familie aufstehen!“ Jeder Pole weiß, dass das ein Aufruf zum Kampf gegen eine Bedrohung ist.
Bereits vor dem Verteidigungsfall vom 20. Juli hatten zwei Ereignisse eine Eskalation angekündigt. Anfang Juli wurde ein Mitarbeiter der Firma Ikea entlassen, weil er auf der Internetseite des Unternehmens schwulenfeindliche Texte verbreitet hatte. Da die Äußerungen mit alttestamentarischen Zitaten angereichert waren, muss es sich um Todesdrohungen gehandelt haben, denn darunter macht es die Heilige Schrift nicht, wenn es um Homosexualität geht.
Ein Sturm der Entrüstung von KKP über die PiS bis zu Rechtsradikalen zog auf: Man prangerte die Unterdrückung der Gewissens- und Glaubensfreiheit an. Das Institut Ordo Juris, das sich unter anderem für den „Schutz der kulturellen Identität in polnischen Schulen“ einsetzt, forderte finanzielle Entschädigung, die Wiedereinstellung des Ikea-Mitarbeiters
und sieht in dem Fall einen Straftatbestand erfüllt: Diskriminierung aufgrund des Glaubens. Im Internet erschienen „spontane“ Aufrufe zum Boykott der Firma, ein User teilte mit: „Ich habe bei Ikea eine Küche kaufen wollen, nun habe ich mich für eine polnische Firma entschieden.“ In der Wochenzeitung „Fakty i Mity“ („Fakten und Mythen“, ein linksliberales antiklerikales Blatt) verglich der Journalist Jerzy Dolnicki die Situation von Schwulen im heutigen Polen mit der Nazi-Zeit: „Jetzt genügt ein Funken, und es kommt zum Pogrom.“ Und es folgt ein sehr unpolnischer, krasser Schluss: „Nicht ohne Grund haben die Nazis ihre Vernichtungslager hier und nicht anderswo gebaut.“
Zur gleichen Zeit erregte ein weiterer Fall die religiösen Gefühle der sensiblen katholischen Öffentlichkeit. Eine Druckerei in Łódź weigerte sich unter Berufung auf die Gewissensfreiheit, ein LGBT-Veranstaltungsplakat zu drucken. Ein mutiger Richter gab den beiden Klägern Recht, doch PiS-Justizminister Zbigniew Ziobro wandte sich nach heftigen Protesten an das neu reformierte Konstitutionstribunal (Verfassungsgericht) und erreichte, was er wollte: Interpretationsfreiheit für ähnlich geartete Fälle. Das Verfassungsgericht erklärte also Artikel 138 des Strafrechts (Diskriminierung im Dienstleistungsbereich) für ungültig.
Jerzy Urban, Atheist, Kommunist, „Schwuler honoris causa“ und Herausgeber der scharfzüngigen Wochenzeitung „Nie“ („Nein“), die auf der Titelseite warnt: „Vorsicht! Diese Zeitung enthält unanständige Redewendungen sowie regierungsfeindliche und antikirchliche Inhalte“, schrieb am 19. Juli: „Russland ist nicht mehr unsere größte Bedrohung. Gemäß PiS werden die Feinde Polens von Schwulen und Lesben angeführt. Der Vizejustizminister Marcin Romanowski ließ verlauten: Polen ist der letzte europäische Staat, der sich der Promotion der Agenda der LGBT entgegenstellt.“ Promotion der Agenda klingt im Polnischen genauso bescheuert wie im Deutschen, es soll aber jenes andere Wort anklingen lassen, das im Zusammenhang mit Schwulen und Lesben gerne verwendet wird: Propaganda.
Der Einsatz für sexuelle Selbstbestimmung, eine Selbstverständlichkeit und ein Menschenrecht, wird von polnischen Katholiken gerne als Propaganda einer feindlichen Macht bezeichnet und entsprechend angegriffen. Als feindliche Macht gilt, je nach Laune, der nichtexistierende Kommunismus oder die Europäische Union. Justizminister Marcin Romanowski ist übrigens Mitglied der sogar für Katholiken extrem rechten Organisation Opus Die; er weiß also, was Propaganda bedeutet.
Kaum jemandem ist bekannt, dass „Propaganda“ als Wort, Begriff und Strategie eine katholische Erfindung ist. 1622 entstand in Rom die „Congregatio de propaganda fide“ (Kongregation zur Verbreitung des Glaubens), die die Aufgabe hatte, Methodik, Taktik und Strategien für Mission und Gegenreformation zu entwickeln. Die Kongregation existiert heute noch, sie hat aber aus propagandistischen Gründen das Wort Propaganda aus ihrem Namen gestrichen. Der Begriff wird inzwischen eher im politischen Bereich verwendet, aber Propaganda funktioniert in der kirchlichen Praxis besser, weil sie dort weniger auffällt; nur wenige würden schließlich etwa den Religionsunterricht als Propaganda bezeichnen.
Mit Radio Maryja ist unter dem Redemptoristenpater Tadeusz Rydzyk ein europaweit einmaliges Propagandainstrument des katholischen Glaubens entstanden, das sich, ausgehend von einem kleinen Radiosender, der 1991 gegründet wurde, zu einem Netzwerk aus Zeitungsverlag, Radiosender, Fernsehsender, Medienhochschule und einem geothermischen Unternehmen entwickelt hat. Der Sender ist fremdenfeindlich, antisemitisch, natürlich homophob und hat Millionen Hörer/innen. Radio Maryja ist eine Kirche in der Kirche, unabhängig von der KKP. Nur der Papst könnte dem Pater Zügel anlegen, aber warum sollte er? Was Vater Rydzyk sagt, ist Gottes Wort, und Gott unterstützt die PiS und mag keine Schwulen. Die kirchliche Propaganda sieht im politischen Alltag dann folgendermaßen aus: Kirchliche Stellen verbreiten einen Aufkleber, auf dem über einem durchstrichenen Regenbogen die Aufschrift prangt: „LGBT-freie Zone“. Am 20. Juli wird die „Befreiung“ ins Werk gesetzt.
In Jerzy Urbans „Nie“ erscheint seit einigen Jahren eine Kolumne unter demTitel „Dem schwarzen Arsch entwichen“ mit Zitaten aus katholischen Medien und Äußerungen von katholischen Eliten. Die Zitate werden kommentarlos mit Datum, Autor, Zugehörigkeit angeführt; ich übersetze einige aus dem Juli 2019:
- 1. Juli, Robert Winnicki, Radio Maryja: „Man muss den Regenbogen-Marsch stoppen.“
- 2. Juli, Michal Walach, Internetplattform PCh24.pl: „Obwohl seit dem Zerfall des ‚Reichs des Bösen‘ 30 Jahre vergangen sind, bleibt die Bedrohung durch die ‚rote‘ Ideologie weiter aktuell.“
- 6. Juli, Prof. Dariusz Oko: „So wie wir uns gegen die kommunistische Ideologie verteidigt haben, so müssen wir uns gegen die Gender-Ideologie verteidigen.“
- 13. Juli, Tadeusz Rydzyk, Chef von Radio Maryja: „Eine unglaubliche Walze kommt auf uns zu, eine Flut des Unglaubens, eine Flut des Atheismus.“
- 14. Juli, Ignacy Dec, Bischof: „Über unseren europäischen Kontinent bewegt sich heute eine neue Welle der Aggression gegen das Christentum, vor allem gegen die katholische Kirche. Sie hat die Flut der Aufklärung überstanden, des Bolschewismus, des Nazismus, und jetzt folgt eine neue Welle, eine neomarxistische, links-liberale.“
- 14. Juli, Edward Frankowski, Bischof: „Eine gottlose Sintflut der Demoralisation kommt heran.“
- 18. Juli, Tomasz Pitucha, Radio Maryja: „Besonders bedroht (durch LGBT) sind Kinder und Jugendliche.“
- 22. Juli, Pfarrer Sławomir Marek, Twitter: „Mitglieder der LGBT sind nicht unsere Brüder und Schwestern. Sie sind Feinde, die Antikultur verbreiten.“
- 1. August, Marek Jedraszewski, Erzbischof von Krakau: „Die rote Seuche geht glücklicherweise nicht mehr über unser Land. Aber es gibt eine neue Seuche – nicht in Rot, sondern in den Farben des Regenbogens.“
Dass die KKP derzeit so offen und aggressiv gegen die LGBT-Community vorgeht, scheint zunächst verblüffend und unverständlich. Die PiS dagegen hat ein offensichtliches, profanes Motiv: Im Oktober sind Parlamentswahlen. Und der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński, der sich gerne als Retter Polens inszeniert, braucht Feinde, vor denen er die Republik schützen kann. Offene Judenfeindschaft ist derzeit weniger opportun, und Deutschland wie Russland sind inzwischen ausgelutschte Feindbilder. Für Kaczyński ist das Regime Putin kein System des Grauens mehr, die in Polen verheizte Kohle stammt überwiegend aus Russland. Die Aktualisierung des latenten Vorurteils gegen Lesben und Schwule und der Ausbau dieses Vorurteils zu einem dämonischen Feindbild ist politisches Kalkül.
Die KKP führt ihren aggressiven Kampf aus anderen Gründen. Im Augenblick sitzt die KKP hosenlos in den Brennnesseln. Ein Dokumentarfilm von Tomasz Sekielski mit dem Titel „Nur sag es niemandem!“ über Pädophilie in der KKP wurde im Internet bereits 22 Millionen Mal aufgerufen. Während die Vorwürfe gegen den Klerus bisher als Angriffe von Kirchengegnern oder als Einzelfälle abgetan wurden, wird durch den Film die Schwere der Verfehlungen derart evident, dass sie auch von Kirchenfreunden nicht mehr beschönigt werden können. Die Fälle sind gut und gründlich belegt, es kommen Opfer und Täter zu Wort, und das Ausmaß der Vertuschung wird bis zum letzten polnischen Heiligen, Johannes Paul II., deutlich.
Wenn die Kirche unter Druck steht, benötigt sie Gegner und Feinde, die sie verteufeln, bekämpfen und unter Beteiligung der gläubigen Bevölkerung verfolgen kann. So entstanden die Kreuzzüge gegen Anders- und Irrgläubige, und so entstanden die Hexenverfolgungen. (Und zwar nicht im Mittelalter, wie gemeinhin geglaubt wird, da war der Hexenglaube noch von der Kirche verpönt. Erst als durch Humanismus, Frühaufklärung und Vernunft das Christentum in ihrem Wesen erschüttert wurde, bot die Kirche ihren Gläubigen Hexen als Feinde und blutige Spektakel der Hexenverfolgung.) So ist es geblieben, und wenn die junge Generation diesem Spuk kein Ende bereitet, wird das so weitergehen. Es gibt Hoffnung: Radio Maryja wird vorwiegend von über 60jährigen gehört, von Jugendlichen kaum. Die Teilnahme am Religionsunterricht nimmt erfreulich kontinuierlich ab. Und „Fakty i Mity“ sowie „Nie“ werden immer mehr gelesen. Vielleicht erleben Polens Hassprediger gerade ihr letztes Gefecht.
Peter Krupka reist regelmäßig nach Polen und stellt fest: Aus einer lustigen Baracke im sozialistischen Lager ist eine muffige Autobahnkapelle in der Europäischen Union geworden.