Der ehemalige Politologe der Berliner Humboldt-Universitä Herfied Münkler (promoviert über Machiavelli, habilitiert über Staatsräson) ist der intellektuelle Star der gesellschaftlichen, politischen und feuilletonistischen Mitte. (Auch sonst, vor allem sprachlich wie denkerisch, orientiert er sich stark am Mittelmaß.)
Kay Sokolowsky hat über ihn bereits 2015 in konkret alles gesagt, was zu sagen ist. Seitdem hat Münkler fleißig, regelmäßig und überall seine national-liberalen Duftmarken gesetzt. Eine kleine, gut platzierte Pfütze findet sich im Oktoberheft der links-liberalen „Blätter für deutsche und internationale Politik“, wo er unter dem Titel „Mehr Westen oder mehr Osten wagen? Europas Wahl zwischen Wertebindung und Geopolitik“ (online für 3,- Euro zu haben) ein „sicherheitspolitisches Vakuum“ der EU konstatiert und benörgelt. Das Problem: Der Amerikaner zieht sich zurück und der Russe kommt. (Und der Europäer schläft, wie schon vor dem Ersten Weltkrieg, in den er schlafwandelnd hineingetaumelt ist. Christopher Clark hat´s formuliert und Münkler hat´s abgenickt.) Die “Annexion der Krim“ durch Moskau sei bereits vollzogen, in der Ostukraine kämpfe der Kreml mit den „Mitteln hybrider Kriegsführung“, attackiere „in Großbritannien lebende Russen“ und natürlich – mit „Pressionen“, „Erpressungen“ und weiteren „Aggressionen“ sei zu rechnen. Und Europa? Ist ganz allein und schutzlos und schläfrig. Bedauerlich: Infolge der „Euphorie eines europäischen Zusammenwachsens“ herrsche eine „Neigung zum Einkassieren der damit anfallenden sicherheitspolitischen Dividende“. (Früher hieß das „fauler Frieden“, heute sagt man „postheroisches Zeitalter“ und leidet am lästig juckenden „Vakuum“.)
Doch Rettung ist nötig und möglich. Münkler, der „Ein-Mann-Think-Tank“(Die Zeit) oder der Denkpanzer (Kay Sokolowsky), bietet zwei Optionen an: 1. die „atlantische Karte“ mit USA und der Nato. Doch leiderleider: „Der Wegfall des gemeinsamen Hauptfeindes, der UdSSR, setzte in wachsendem Maße zentrifugale Kräfte auch innerhalb der nordatlantischen Allianz frei.“ So ist man sich in Brüssel der “bedingungslosen Loyalität einiger osteuropäischer Neumitglieder der Nato nicht mehr sicher“! Das ist schlimm, aber Münkler wäre nicht Münkler, wenn er keine Lösung wüsste. Also 2. Option: Kooperation mit Russland! Das verblüfft zunächst, denn ist das nicht die vom Vakuum angezogene Bedrohung? Mitnichten, vergessen wir nicht, Münkler kennt nicht nur den Vertrag von Rapallo 1922, er ist ein durch und durch nationaler Mann und ein militärisches Kraftgenie (Er hätte den 30jährigen Krieg in 8 Wochen hingekriegt!) und so hat er auch eine vakuumkompatible Lösung parat für den russischen Regionalfeind bzw. -verbündeten: Beim „Einbezug Russlands“ dürfe man die „Risiken nicht unterschätzen“, daher müsse die „militärische Komponente“ gestärkt werden. (Aber Obacht: Einstieg in ein „nukleares Wettrüsten zwischen Europa und Russland“ muss vermieden werden! Warum eigentlich? Oder gilt das nur vorläufig?) Das waren noch Zeiten, als man Kriege gegen Feinde geführt hat: in den neuen Kriege sind die Verbündeten dran!
„Die neuen Kriege“? Das ist der Titel eines Münkler-Buches und da meint er etwas völlig anderes, nämlich die Asymmetrie der Kriegsführung von Staaten gegen Terroristen und von Terroristen gegen Staaten. Und nennt als Ordnungsideal die Symmetrie von Kriegen von Staat gegen Staat. Ein gutes Beispiel wäre das Jahr 1983, als die USA einen symmetrisch geordneten Krieg gegen Grenada führten und gewannen.
Weitere Beispiele? Asymmetrisch war der Amoklauf von zwei Zivilpersonen an der Columbine High School am 20.3.1999, bei dem 15 Menschen getötet wurden. (Nach der nichtstaatlichen, privaten Aktion töten sich die Attentäter vorbildlich selbst.) Symmetrisch dagegen war die Bombardierung des Belgrader Fernsehsenders Televizija Srbije am 23.3.1999 durch die Nato, bei der 16 Mitarbeiter getötet wurden. (Weil das mit der Symmetrie nicht konveniert, töten sich die Töter nicht. Sie müssen bei den Ehrungen präsent sein.) Wer das nicht versteht, sollte es mit der Symmetrisierung von Nebel oder Schlamm versuchen, das ist einfacher.
Zurück in die Zukunft: Die EU braucht, so Münkler, eine stramme Armee und die sollte einem „geopolitischen Imperativ“ folgen. Geopolitisch? Imperativ? Kategorisch vielleicht? Natürlich! Es drohe schließlich eine „Marginalisierung Europas“. Es geht um außereuropäische Märkte, Handelswege, Exportausweitung, um seltene Erden und ähnliches Zeugs. Da ist Russland wohl nur Vorhof, und die Aufzählung seiner Untaten nur Geplänkel? Allzu deutlich wird Münkler nicht. Erst wo es um ein „strategisches Zentrum“ für die “sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit“ Europas geht, redet er Klartext. „Nach Lage der Dinge kann das strategische Zentrum nur von einer Achse Paris-Berlin gebildet werden.“ Wenn der nationalgesinnte Leser jetzt erschrocken auffährt und fragt, wieso Paris vor Berlin steht, kann ich ihn beruhigen: das Kompositum besteht aus Beiwort und Hauptwort.
Bescheiden wie er ist, macht der Professor keine Vorschläge für den Vorsitz des Strategischen Zentrums. Dabei stünden für eine symmetrische Doppelspitze zwei bedeutende Persönlichkeiten bereit, die ohne weiteres vier ähnlich kalibrierte Koryphäen ersetzen könnten: Münkler und Herfried, beide hätten Zeit, der eine ist pensioniert und der andere emeritiert.
Ausgewiesene Fachleute sind beide. Münkler hat über Machiavelli promoviert (Trennung von Politik und Moral wäre damit garantiert, also die Trennung von Geopolitik und Wertebindung). Darauf ließ Herfried eine Habilschrift über Staaatsräson folgen. (Da ist der Titel Programm, und ein Kriegsmann erkennt sofort die Präferenzen.) Münkler hat das bedeutende Werk „Imperien: Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten“ verfasst. (Auf S. 249 spricht er von der „Herstellung europäischer Handlungsfähigkeit“ durch „stärkere Hierarchie innerhalb der EU“.) Herfried wiederum hat mit seinem Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ einen Katalog von fürs deutsche Selbstverständnis notwendigen kleinen „Narrativen“ verfasst und bedauert das Fehlen einer mythischen Groß-Narretei, also einer für das heutige Deutschland brauchbaren „Meistererzählung“. Es ist unüberhörbar (Fußscharren, Fingerschnipsen, Hüsteln), dass Herfried sich als den erwarteten Meistererzähler anbietet. Seine sprachliche Wucht erstaunt immer wieder. Wenn er z. B. von der „Auseinandersetzung mit den leitenden Erzählungen der Vergangenheit, die als Leitplanken für die Zukunftsperspektiven anzusehen sind“, redet, weiß man, da spricht ein Demosthenes, wenn nicht gar der Messias himself.
Am Anfang seines Artikels vermeldet Münkler, dass „der Rückzug der USA aus Europa 1919 als Ursache namentlich für den Aufstieg Hitlers und den Erfolg seiner gegen die Versailler Ordnung gerichteten Revisionspolitik“ anzusehen ist. (Da bekommt der Vogelschiss endlich seine schwammige Konkretisierung!)
Und „Revisionspolitik“? Ist das nicht als Wink mit dem Zaunpfahl auf die rechte Leiplanke für die Zukunftsperspektiven des nationalen Revisionismus in der neuen deutschen Meistererzählung anzusehen?
Und für´s Internationale gibt’s eine weitere Leitplanke: „Die Kriege im Nahen Osten und die aus ihnen resultierenden Flüchtlingsbewegungen, dazu die notorische Instabilität der Staaten an der Europa gegenüberliegenden Mittelmeerküste und das wachsende Erfordernis einer strategischen Einflussnahme auf die Entwicklung in der Sahelzone zeigen, dass diese Zeit des Abwartens nun dringend zu Ende gehen muss. Die Europäer müssen eine Entscheidung treffen.“
Und so trifft alles aufeinander: Machiavelli, Staatsräson, Vakuum, Imperium, Hegemonie, Berlin. Es fehlt Weltherrschaft. – Aber zur Ablenkung und Rechtfertigung: die Sahelzone.
(Die Zitate stammen vorwiegend aus dem angeführten Artikel)
